Mittwoch, 21. März 2007

1. Kapitel (1)

Als Gordo an diesem Morgen aufwachte, glaubte er im ersten Moment, nie wieder auf zwei Beinen stehen zu können. Sämtliche Glieder bis in den kleinen Fußzeh schmerzten, was allerdings nicht verwunderte, wenn man wußte, daß er zwei Tage und Nächte lang hintereinander ohne zu schlafen bei Taske zugebracht hatte.
Gordo drehte sich unter Mühen zur Seite und betrachtete die vor sich hin dösende frischgebackene Mutter. Entkräftet aber mit glücklicher Miene hielt sie das winzige Baby im Arm. Nur das kleine Köpfchen guckte unter dem schützenden Flügel hervor. Gordo schloß die Augen und lauschte in die friedliche Stille des anbrechenden Tages. Er liebte diesen Moment gerade jetzt um so mehr, da er wußte, daß mit dem Erwachen des Tages auch ein neues Leben erwacht war, das sich nun von den Strapazen seines Weges ans Licht der Pyramide erholte.
Gordo vernahm ein leises Wimmern. Er betrachtete das Neugeborene. Es schlief. Taske hatte das Geräusch auch wahrgenommen. Sie blickte Gordo mit fragendem Blick an. Hastig sprang er auf, bereute diese Tat jedoch sofort wieder, denn sein Rücken strafte ihn mit einem stechenden Schmerz. Humpelnd verließ er seine Hütte und ließ seinen Blick über das vor ihm liegende Gelände schweifen.
Vor der Hütte lag ein kleiner Hof, dessen hellbraune Erde festgetreten war von den unzähligen Schritten, die er bereits darauf zurückgelegt hatte. Hauchdünne Nebelschwaden bedeckten ihn hier und da, wanden sich um den kleinen Ziehbrunnen herum und schmiegten sich kühl um Gordos nackte Füße.
Er blieb am Brunnen stehen und schöpfte mit seiner rechten Hand Wasser aus dem Eimer, der auf dem Brunnenrand stand. Das Wasser war kalt und ließ ihn frösteln. Er wischte sich die Feuchtigkeit mit dem Ärmel seines Hemdes ab und blickte zu dem kleinen Wald, der an seinen Hof grenzte und sich über eine halbe Meile in Richtung des Schtolkoufers erstreckte.
Am Waldrand bewegte sich etwas im Laub. Gordo vermutete eine Stachelbeere in dem Laubhaufen, ein willkommenes, warmes Nachtlager für diese einzelgängerische Unterart der Stacheltiere auf Jöngrilat. Selten schliefen sie über das Morgengrauen hinaus. Erneut bewegte es sich. Gordo ging vorsichtig darauf zu. Er fand etwas, das aussah wie ein Stoffbündel, das offensichtlich zu leben schien. Es zappelte hin und her und hatte kleine Menschenfüße und Menschenhände. Jetzt war das Wimmern von vorhin laut und deutlich zu hören und als Gordo direkt davor stand, wuchs es zu einem hohen Gebrüll an, so daß dem übernächtigten Mann der Kopf zu dröhnen begann.
Vorsichtig öffnete er das Stoffbündel. Es lag ein nackter Säugling darin, am ganzen Körper zitternd, mit einem krebsroten Gesicht, das den Anschein erweckte, jeden Augenblick wie ein Gummiballon platzen zu können. Gordo nahm das brüllende Baby hoch, und lief, so schnell es seine schmerzenden Glieder zuließen, zurück zur Hütte.
Drinnen lag Taske auf ihrer Schlafmatte und säugte ihr fünf Stunden altes Kind. Gordo hockte sich neben sie und hielt ihr das Bündel hin, aus dem nach wie vor ein Gebrüll ertönte, von dem man kaum erwartete, daß es von einem menschlichen Wesen stammte. Taske sah Gordo fragend an.
"Es lag draußen am Waldrand", versuchte er das Gebrüll zu übertönen.
Taske nahm den schreienden Säugling mit ihren großen Händen und legte ihn neben ihr Kind an die andere Brust. Vorsichtig half sie dem suchenden kleinen Mund, den Quell der Nahrung zu finden. Augenblicklich verstummte das Gebrüll. Eine himmlische Stille erfüllte den Raum. Nur das rhythmische Saugen zweier Wesen war zu hören, die unterschiedlicher gar nicht sein konnten und doch ein gemeinsames Ziel hatten. Ihren Hunger zu stillen.

Gordo verließ die Hütte ein zweites Mal und ging zurück zum Waldrand, wo er das Bündel Mensch gefunden hatte. Stück für Stück suchte er in der näheren Umgebung des Fundplatzes nach Hinweisen, wer oder was den Säugling dort abgelegt haben konnte. Er durchwühlte mit den Händen das feuchte Laub, schob es beiseite, aber der Mann fand nichts außer einigen frischen Pilzen, die in der Nacht aus dem Boden geschossen waren. Nachdenklich bückte er sich danach und zog sie vorsichtig heraus. Das Bild eines verführerischen Pilzomeletts entstand vor seinem Auge.
Gordo drehte sich um und blickte von weitem auf die kleine Hütte, die er selbst vor langer Zeit aus dem Holz des Waldes gebaut hatte. Das winzige Häuschen neigte sich inzwischen sichtbar nach links. Während er jetzt darauf zuging, sah er, wie sein Hahn der einzigen Henne, die er besaß hinterherstolzierte und ein Krähen über den Hof schickte, laut, klar und in sauberer Tonfolge, ohne eine der vier Silben zu verschlucken. Der Hahn und Gordo blickten sich kurz an. Zumindest kam es Gordo so vor.
"Kräh du nur, Junge", murmelte Gordo. "Aber sieh zu, daß du dir mit der Familiengründung nicht all zu viel Zeit läßt. Wir haben Zuwachs bekommen, dessen Hunger bald nicht mehr nur mit Muttermilch gestillt werden kann."
"Kock", antwortete der Hahn und setzte sein Stolzieren fort. Die Henne schritt mit aufreizend hohem Hinterteil Richtung Waldrand.
Gordo blieb am Brunnen stehen und hielt die Pilze kurz in das kalte Wasser im Eimer. Er runzelte die Stirn. Er war ratlos. Was sollte er mit diesem Findelkind anfangen? Er war immer allein gewesen, sein Leben lang, und so sollte es auch eigentlich bleiben. Das einzige Wesen, das ihn seit mehr als zwanzig Jahren begleitete, war Taske, sein Flugmensch, die für ihn fischte und ihm ab und zu als Transportmittel diente, wenn er reisen mußte. Mit ihrem Nachwuchs hatte er eigentlich nichts zu tun. Mit einem Menschenbaby konnte er so wenig anfangen wie ein Schmied mit einem Fischernetz.
Wie sollte er ein Kind ernähren, wenn Taske keine Milch mehr hatte? Nahrung war Mangelware in dieser Gegend, die sich weit ab von der Zivilisation befand, wo man für Geld zwar alles Nötige bekam, jedoch nur, wenn man genügend davon besaß. Gordo besaß kein Geld. Er war nicht arm. Alles, was er zum Leben brauchte, gab ihm das Land, das sich um sein Haus herum befand, und die Wasser des Schtolko belohnten ihn und Taske mit Fischen, wenn sie sich genügend bemühten. Ein Menschenkind aber brauchte mehr als nur Nahrung, damit es in dieser Welt überleben konnte.
Gordo dachte an die harten Winter, die er hier draußen schon erlebt hatte. Winter, die ihn und Taske dazu gezwungen hatten, tagelang in der Hütte zu verbringen, bis Ilno, die Sonne der Pyramide sich dazu bequemte, auch nur einen dünnen Strahl herunter zu schicken, der einem das Gefühl gab, noch unter den lebenden zu weilen. Das Leben hier draußen war hart und unerbittlich für einen Erwachsenen, der daran gewöhnt war. "Für ein Kind sicherlich tödlich", sagte Gordo und blickte dem Hahn hinterher.
"Kock", wiederholte der und bestieg die Henne.

Mit den frischen Pilzen in der Hand betrat er die Hütte. Es war ein seltsames Bild, das Menschenbaby in Taskes Arm liegen zu sehen. Es schien noch winziger als vorhin, weil Taske mit ihren zwei Metern zehn ein besonders großes weibliches Exemplar ihrer Art war. Die rosige Haut des Babys setzte sich schimmern vom dunklen Bronzeton ihres dichten Fells ab. Mit wachen Augen lag es da und gab leise, seltsame Töne von sich, auf die Taske mit Lauten ihrer eigenen Sprache antwortete. Gordo verstand sie nicht. Niemand auf Jöngrilat hatte je herausfinden können, wie die Laute der Flugmenschen hervorgebracht wurden, noch, was man darunter tatsächlich verstehen mußte.
Flugmenschen, die man auch Trills nannte wegen der vielen Trillertöne in ihrer Sprache, waren zwar intelligente Wesen, allerdings äußerst unzivilisiert. Sie lebten nur auf Jöngrilat, der ersten Stufe der Pyramide, hausten in Höhlen und ernährten sich hauptsächlich von rohem Fisch. Niemand wagte es, tiefer in ihren Lebensbereich einzudringen, denn unter Umständen fand man den Weg zurück nie mehr. Wilde Flugmenschen galten als Kannibalen und grausame Menschenquäler, glaubte man den alten Sagen aus lange vergangener Zeit.
Gordo jedoch war sicher, daß in diesen Wesen mehr steckte als nur das Tier, denn Taske hatte ihm gegenüber niemals irgend eine Böswilligkeit gezeigt. Sie verstand genau, was Gordo zu ihr sagte, führte aus, was er ihr auftrug und strahlte eine Wärme ihm gegenüber aus, auf die er nicht mehr verzichten konnte, ohne daß er körperliche Schmerzen litt.
Ein Phänomen, daß trotz genauer Forschungen noch nicht geklärt werden konnte. Anderen Menschen, die sich einen Flugmenschen hielten, erging es ähnlich.
Fortsetzung folgt...

Dienstag, 13. März 2007

Prolog - Der Komet











S
eit Jahrhunderten schon lebte das Volk hoch oben in dem riesigen Gegirge auf Kulkul, der zweiten Stufe der Pyramide. Das Gebirge selbst war wie eine große Stadt, die aus unzähligen kleineren Städten bestand, in der Tausende von Menschen lebten, die Tag aus Tag ein ihre Arbeit verrichteten und Dingen nachgingen, die dazu beitrugen, daß die Städte wachsen und gedeihen konnten.

Es hatte den Gast nie gestört, daß sich im Laufe der Zeit auf seinem Körper seltsame, winzige Dinge ansammelten, die hin und wieder ein leichtes Kribbeln verursachten. Das Kribbeln war nicht der Rede wert, solange es sich nur an der Oberfläche befand. Und eigentlich spürte der Gast es wirklich kaum. Seit einem halben Jahrhundert aber war das Kribbeln immer deutlicher geworden. Direkt in der Nase, genauer gesagt, im rechten Nasenloch verstärkte es sich von Jahr zu Jahr. Ganz langsam kroch es in das noch tief schlafende Bewußtsein des Gastes, formte sich in unglaublich langsamer Geschwindigkeit unaufhörlich zu einem Gefühl, das nach einem halben Jahrhundert so unangenehm wurde, daß der Gast zu erwachen begann. Sein Schlaf hatte 999 Jahre gedauert.

Der Gast gehört zu einer Spezies, von der nur noch fünf Exemplare auf der Pyramide existieren. Die Vertreter dieser äußerst seltenen Spezies verweilen gerne für sehr ungewöhnlich lange Zeit an ein und dem selben Ort, wobei es sich hier um Zeiträume handelt, die über das menschliche Fassungsvermögen weit hinaus gehen. Hat ein Gast einmal einen angemessenen Platz eingenommen, rührt er sich nicht mehr von der Stelle. Vollkommen bewegungslos verharrt er dort wie ein Gebirge oder vielleicht auch nur wie ein kleiner Fels, dies hängt von seiner Größe ab. Zumeist erinnert er an solcher Art Gesteinsformationen.
Generationen von Menschen bestiegen den Gast und wanderten auf ihm herum. Urvögel schon nisteten sogar in seinen Poren, Dinosaurierer legten ihre Brutstätten bevorzugt in seinen Gehörgängen an, ganze Städte waren auf ihm entstanden und wieder verschwunden, durch katastrophale Naturereignisse, die niemand erklären konnte, weil niemand sie überlebt hatte.
Solch ein unerklärliches, von Menschen so gefürchtetes Naturereignis geschah an dem Tag nach des Gastes 999jährigem tiefen Schlaf.

Die Mutter legte den Säugling am Eingang des Tempels ab. Die wärmenden Strahlen der Morgensonne berührten das kleine Stoffbündel. Das Baby schlief. Die Mutter nahm ihren Reisigbesen und begann im Innern des weitläufigen Tempels mit ihrer täglichen Arbeit, alles Laub, das im Laufe des Tages zuweilen mit dem Wind hereingetragen wurde, zusammen zu kehren. Vor allem in den verborgenen Ecken und Winkeln fand sie an diesem Tag besonders viel davon, weil der Wind es bevorzugte, dort mit den welken Blättern Fangen zu spielen. Die Mutter kehrte sehr sorgfältig. Mit kräftigen Bewegungen schob sie den Besen vor und zurück und hin und her.

Und dann geschah das Unglaubliche.

Der Gast nieste. Er nieste so heftig, daß sein Atem mit einem ohrenbetäubenden Getöse aus seiner Nase fuhr und alles mit sich fortriß, das nicht inzwischen mit ihm verwachsen war. Die Menschen der Stadt unterhalb des Tempels warfen sich auf die Erde nieder, weil sie glaubten, das Ende der Pyramide stehe ihnen bevor. Sie wurden unter einer Lawine von Felsbrocken begraben, die sich von der Stirn des Gastes gelöst hatte und nun auf die Stadt niederprasselte.
Der Säugling in seinem Stoffkokon wurde von dem Orkan, den das Niesen des Gastes hervorgebracht hatte, mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit vom Tempeleingang hoch hinaus in den Himmel getragen, immer weiter und weiter fort von dem Plartz und der Stadt und dem Gebirge.
Der Zufall aber wollte es, daß ein zweiter, etwas kleinerer Gast zur gleichen Zeit im Schlaf einen tiefen Seufzer von sich gab. Der Luftstrom des Seufzers flog dem Baby entgegen, und als der Seufzer auf das Bündel mit seinem lebenden Inhalt traf, trudelte es einem fallenden Blatt gleich zur Erde hinab und landete sanft auf einem Laubhaufen am Rande eines Waldes auf Jöngrilat.

Die Menschen der ersten Stufe der Pyramide, die das fliegende Phänomen gerade noch mit ihren Augen erfassen könnten, sprachen von einem Kometen und gaben diesem deshalb den Namen Oliveen.